Forderungen des Bayerischen Landespflegerats zur Landtagswahl am 14. Oktober 2018
PRÄAMBEL
Das öffentliche Gesundheitssystem unterliegt auf Grund des demographischen Wandels, steigender Ansprüche der Bevölkerung und der Ausdifferenzierung der Versorgungsformen und –angebote einem steigenden Veränderungsdruck. Der Bedarf an pflegerischer Versorgung steigt rasant an. Insbesondere in der professionell ausgeübten pflegerischen Versorgung wächst die Bandbreite der Aufgaben, Verantwortung und Versorgungskomplexität. Dies führte in den letzten Jahren auf Grund des Mangels an Fachkräften zu einer Zuspitzung bei der Belastung des Pflegepersonals in allen Sektoren. Die Verschärfung der Rahmenbedingungen wirkt sich deutlich auf die Verweildauer im Beruf und die Attraktivität des Berufes insgesamt aus. Die Folgen sind akute Probleme bei der Personalgewinnung und nachhaltigen Personalbindung. Gleichzeitig bringt der ökonomische Druck die Einrichtungen an ihre Grenzen und zieht massive Einschnitte bei den Personalstellen nach sich. Vor diesem Hintergrund muss neben der Quantität vor allem die Qualität der pflegerischen Versorgung als gefährdet angesehen werden.
Darüber hinaus ist die berufliche Pflege als traditionell weibliches Berufsfeld überdurchschnittlich von Teilzeit und Prekarisierung geprägt. Die längst erwartete Pflegeberufereform sowie die Regelungen zu Pflegepersonaluntergrenzen im Setting Krankenhaus stellen alle beteiligten Player vor zusätzliche Herausforderungen.
Die 17 im Bayerischen Landespflegerat zusammengeschlossenen Mitgliedsverbände verfügen über ein hohes Maß an Sachverstand im Politikfeld „Pflege“. Mit ihrem Expertenpool können sie, gerade im schwierig zu regulierenden Feld der Gesundheitspolitik, einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie sind gerne bereit, interessierte Politikerinnen und Politiker bei komplexen Fragestellungen zu beraten, innovative Ideen einzubringen, Reformmaßnahmen zu begleiten und gemeinsam nachhaltige Lösungen zu entwickeln.
Der Bayerische Pflegerat spricht sich für die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen, zukunftssicheren und evidenzbasierten pflegerischen Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger Bayerns aus.
Er fordert deshalb die Parteien auf, die Entwicklung der Profession Pflege als politische Aufgabe wahr und ernst zu nehmen. Weg von der einseitig medizin-lastigen Politik hin zu einer Gesundheitspolitik, die gleichberechtigt die professionelle Pflege im Blick hat. Dazu braucht es konkrete Maßnahmen zur Imageverbesserung und zur Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe. Es braucht auch die leistungsgerechte Bezahlung, die nicht allein den Gesetzen des Marktsegments „Pflegebranche“ überlassen werden darf. Wir fordern eine wertschätzende Kommunikationskultur auf Augenhöhe.
Wir rufen die im Landtagswahlkampf in Bayern vertretenen Parteien auf, die folgenden Forderungen in die Inhalte ihrer Wahlprogramme aufzunehmen und in der kommenden Legislaturperiode umzusetzen.
1. PFLEGEKAMMER
Neben der reinen Interessensvertretung, wie sie beispielsweise die Berufsverbände wahrnehmen, fordert die berufliche Pflege zur gleichberechtigten Mitgestaltung im Gesundheitswesen das politische Bekenntnis zu einer echten Selbstverwaltung. Der BLPR wiederholt an dieser Stelle nochmals mit aller Deutlichkeit seine Forderung nach einer Pflegekammer, auch für die bayerischen Pflegenden. Das Fortschreiten der Pflegekammergründungen in Deutschland zeigt eindrücklich, wohin die Entwicklung zukünftig gehen wird. Die sich im Gründungsprozess befindliche Bundespflegekammer wird im Laufe des kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen und damit der zentrale Ansprechpartner der Pflegeberufe für Politik und Gesellschaft auf Bundesebene sein. Das bayerische Alternativmodell (Vereinigung) wird hier nicht mitwirken können, was gleichbedeutend mit einer Isolierung der bayerischen Pflegenden ist.
Bestandteil einer legitimen Selbstverwaltung ist die dringend notwendige, verpflichtende Registrierung der Berufsangehörigen. Ohne valide Datengrundlage sind Aussagen zum aktuellen wie zukünftigen Bedarf sowie zur Qualifikation der in der Pflege Tätigen nicht im notwendigen Maß möglich. Die Gesellschaft, die Politik und die Partner im Gesundheitswesen profitieren von einer autonomen und starken Stimme der Pflegenden.
Der BLPR fordert mit Nachdruck die Etablierung einer echten Selbstverwaltung in Form einer Berufskammer und die sofortige Registrierungspflicht für die Pflegeberufe.
2. EINRICHTUNG EINES RESSORT PFLEGE MIT PFLEGEWISSENSCHAFTLICHER EXPERTISE
Der Anstieg der Komplexität der Versorgungsbedarfe im Gesundheitswesen hat zwar zu einer dezidierten Ausdifferenzierung in den Pflegeberufen geführt, aber gleichzeitig auch zu einer Erhöhung des Anspruchsdenkens der zu versorgenden Bürgerinnen und Bürger. Alle Handlungsfelder der professionellen Pflege bereiten sich durch vermehrt hochschulische Bildung darauf vor, der Komplexität der pflegerischen Dienstleistungen, wie auch der diversen Gesundheitsversorgungslagen insgesamt, gerecht zu werden. Daher münden akademisch gebildete Pflegefachpersonen in immer größerer Zahl in die Versorgungssettings, in die Lehre und die Forschung ein.
Der BLPR fordert die Schaffung einer Chief-Nurse im zuständigen Ministerium (StMGP) zur Absicherung der pflegefachlichen Expertise. Wie in internationalen Gesundheitssystemen üblich, sollte diese Position mit dementsprechenden Kompetenzen ausgestattet sein. Damit soll die Einbindung der Pflegewissenschaft in alle pflegerelevanten Themen gewährleistet werden.
Wir fordern darüber hinaus eine verbindliche und aktive Einbindung der Expertise der Profession Pflege in die landespolitischen Prozesse.
3. KONKRETISIERUNG UND UMSETZUNG DER PFLEGEBERUFEREFORM
Im Sommer 2017 wurde das Pflegeberufereformgesetz verabschiedet, welches u. a. die generalistische Ausbildung vorsieht. Die Verabschiedung der dazugehörigen Rechtsverordnung (APrV) durch den Bundestag lässt ebenso auf sich warten, wie die für die Konkretisierung der Finanzierung notwendige Verordnung. Neben einer auskömmlichen Finanzierung muss unbedingt die Ausbildungsqualität im Auge behalten werden.
Der BLPR fordert die Parteien in Bayern auf, sich für die erfolgreiche Umsetzung der Pflegeberufereform, im Sinne der Profession und der zukünftigen pflegerischen Versorgung der Bevölkerung, einzusetzen. Um eine qualitativ hochwertige Ausbildung weiter zu gewährleisen, fordern wir die Absenkung des Ausbildungsniveaus rückgängig zu machen. Dazu gehört der vorgesehene Einstieg von Pflegefachhelfern in das 2. Ausbildungsjahr sowie die geplante Kompetenzabsenkung für die Altenpflege. Darüber hinaus fordert der BLPR an dieser Stelle die Finanzierung der hochschulischen Pflegeausbildung auf Landesebene verbindlich zu regeln.
4. PFLEGE ALS LEISTUNGSERBRINGER – STRUKTUREN SCHAFFEN
Professionelle Pflege wird im Gesundheitswesen immer noch in der Hauptsache als Kostenfaktor und weniger als Leistungserbringer (z.B. im DRG-System) wahrgenommen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass der steigende und spezielle Versorgungsbedarf der Bevölkerung professionelle Pflege in allen Settings erfordert.
An dieser Stelle soll nochmals auf die Notwendigkeit eines Heilberufsausweises für Angehörige der Pflegeberufe verwiesen werden. Eine Vielzahl der digitalen/telemedizinischen Lösungen setzt den Besitz eines Heilberufsausweises voraus. Dieser stellt eine moderne Form der Zulassung, Registrierung und des Informationszugriffs dar und ist ein Schritt zur Etablierung der Pflegeberufe als autonome Dienstleistungsberufe mit anerkannten Kompetenzen und geregelter Selbstkontrolle.
Pflegefachkräfte sind in Bundesländern ohne Pflegekammern nicht registriert. Ein Zugang zu relevanten Patientendaten ist somit für nicht registrierte Pflegefachpersonal ausgeschlossen.
Der BLPR fordert die adäquate Abbildung, Ausweisung und Vergütung der pflegerischen Leistungen, unabhängig vom Sektorenbezug (SGB V, XII etc.) und die regelhafte Möglichkeit, für pflegerische Leistungen Kassenverträge abschließen zu können.
Wir fordern die Parteien auf, VertreterInnen des BLPR an relevanten Gremien zu E-Health und Gesundheitskarte in Bayern zu beteiligten und für eine zeitnahe Registrierung aller Pflegefachkräfte zu sorgen.
5. IN ATTRAKTIVITÄT DES PFLEGEBERUFES INVESTIEREN
Die anhaltend schlechten Arbeits- und Rahmenbedingungen stellen die größte Herausforderung bei der Gewinnung und Bindung von Arbeitskräften in der beruflichen Pflege dar. Professionelle Pflege taucht in der öffentlichen Darstellung meist in negativen oder klischeebehafteten Kontexten auf. Die Entwicklung der beruflichen Pflege muss als politische Aufgabe wahr- und ernstgenommen werden. Wir müssen weg von einer medizin-lastigen und hin zu einer Gesundheitspolitik, die die professionelle Pflege gleichberechtigt im Blick hat. Wir brauchen konkrete Maßnahmen zur Imageverbesserung und Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe. Dazu zählt auch eine leistungsgerechte Bezahlung, vor allem für Dienstzeiten außerhalb der Regelarbeitszeit. Gerade hier ist die Pflege im Branchenvergleich deutlich unterbezahlt.
Zur Steigerung der Attraktivität und Verbesserung des Images des Pflegeberufes fordern wir die Politik um Unterstützung zur schnellen und dringenden Umsetzung folgender Maßnahmen auf:
Etablierung eines „Förderprogramms Pflege“
Nachwuchsgewinnung (Ausbildungsoffensive, positive Werbung für den Pflegeberuf, mehr Ausbildungsplätze)
Förderung der Akademisierung in der Pflege
Angemessene pflegerische Personalausstattung in allen Versorgungsbereichen (Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Verringerung der Arbeitsbelastung)
Höhere Vergütung bei den Zeitzuschlägen
Neustrukturierung der Aufgabenverteilung im Gesundheitswesen (mehr Entscheidungskompetenz – bessere Karrierechancen)
Zulassung von Selbstverwaltung des professionellen Berufes (Kammer)
Immaterielle wie materielle Anerkennung des Beitrags der Pflege zu Gesundheit und Lebensqualität (Wertschätzung)
Einbeziehung der pflegerischen Fachexpertise in den berufs- und versorgungsrelevanten Entscheidungsgremien.
6. ENTWICKLUNG DER PFLEGEWISSENSCHAFT IN BAYERN
Das Bundesland Bayern verfügt über keinen Lehrstuhl für Pflegewissenschaft an einer Universität. Wichtige Erkenntnisse der Pflegewissenschaft finden ihren Weg nicht in die Pflegepraxis. Das Gleiche gilt für die Therapieberufe und die Hebammenwissenschaft.
Der BLPR fordert die Parteien auf, die Einrichtung von Lehrstühlen für Pflegewissenschaften an allen bayerischen Universitäten, die auch über Lehrstühle der Medizin verfügen, zu veranlassen sowie Leitungsstellen im Pflegeministerium und Landesamt für Pflege mit PflegewissenschaftlerInnen zu besetzen. Krankenhäuser und stationäre Einrichtungen der Langzeitpflege müssen finanzielle Förderungen zur Entwicklung und Etablierung von Strukturen für akademische Lehreinrichtungen in der Praxis erhalten.
7. SOZIALE RAHMENBEDINGUNGEN
Pflegefachpersonen sind ein rares Gut und sollen gleichzeitig unter schwierigen Rahmenbedingungen tätig sein. Die logische Folge auf Grund der derzeitigen, schlechten Bedingungen ist die Berufsflucht. Als Hauptursache benennt die Berufsgruppe die zunehmende Arbeitsverdichtung bei gleichzeitig nicht hinreichend mitwachsender Personalausstattung. Darüber hinaus stehen hohe Lebenshaltungskosten in Ballungsräumen und immense Immobilienpreise einem relativ niedrigen Gehalt gegenüber. Die Brutto-Stundenlöhne von examinierten Pflegekräften sind spürbar niedriger als der Mittelwert für alle Beschäftigten in Deutschland. Neben höheren Entgelten muss eine verbesserte Personalausstattung primäres Ziel der Verbesserung sein. Weitere Hürden sind körperliche und seelische Überlastung, häufig in Folge zu schlechter Personalausstattung und für den Lebensunterhalt zu kurze, ungünstige Arbeitszeiten, oft am Abend oder am Wochenende. Unter den derzeitigen Bedingungen wird eine adäquate und ausreichende Nachwuchsgewinnung nahezu unmöglich sein.
Der BLPR fordert die Aufwertung der professionellen Pflege als sozialer Dienstleistung für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Hierzu gehört auch eine leistungsgerechte Bezahlung, die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum (auch Ortszuschläge für Ballungsräume) und verbesserte Strukturen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
8. PFLEGEBERICHTERSTATTUNG – ZAHLEN, DATEN, FAKTEN
Das Fehlen validen Zahlenmaterials zur Situation der professionellen Pflege erlaubt es derzeit nicht, prognostische Bedarfe zu erheben und Analysen zur zukünftigen Versorgungssicherung der Bevölkerung abzugeben. Viele Bedingungen können weder beschrieben, noch ihre weitere Entwicklung eingeschätzt werden. Angesichts der bestehenden, bedrohlichen Situation wäre eine Landespflegeberichterstattung, im Sinne eines Monitorings, ein gangbarer Weg, auch als Kommunikationsinstrument zwischen Politik und den Akteuren.
Der BLPR fordert die Parteien auf, einen jährlichen Landesbericht zur Pflege in Bayern zu veranlassen, in dem die Situation der beruflichen Pflege settingübergreifend sowie der Pflegeempfänger und der pflegenden Angehörigen dargestellt und beschrieben wird.
9. MEHR QUALITÄT DURCH MEHR QUALIFIZIERTE PFLEGEPERSONEN
Nicht erst die Bundesagentur für Arbeit signalisiert für alle 16 Bundesländer bereits gravierende Fachkräfteengpässe in den Pflegeberufen. Neben einem absoluten Personalmangel auf Grund unbesetzter Stellen existiert ein relativer Personalmangel, resultierend aus dem zu gering bemessenen Personalschlüssel im Pflegebereich, settingübergreifend. Gleichzeitig ist der Markt für Fachkräfte „leergefegt“. Pflegefachkräfte sehen sich in allen Einsatzfeldern einer Steigerung der beruflichen Anforderungen ausgesetzt, bei gleichzeitig sinkender Anzahl von KollegInnen. Studien belegen einen Intent-to-leave von bis zu 40 Prozent bei Pflegefachpersonen. Die NEXT Studie deckte bereits 2005 die Gründe für den vorzeitigen Ausstieg aus dem Berufsleben auf. Weitere Studien belegen zudem einen Zusammenhang zwischen der Versorgungsqualität und der Anzahl hochqualifizierter Pflegefachpersonen im Krankenhaus. Verhältniszahlen wie Nurse-to-Patient Ratios sind als Instrumente der Qualitätssicherung verbindlich heranzuziehen. Die Bereitstellung einer bedarfsgerechten Personalausstattung dient nicht nur dem Schutz der Patientengesundheit, sondern stellt auch eine wesentliche Voraussetzung für zufriedenstellende Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals dar, die wiederum eine sehr wichtige Voraussetzung für den langfristigen Verbleib im Beruf und die Gewinnung ausreichenden Nachwuchses ist.
Der BLPR fordert die Parteien auf, sich dafür einzusetzen, dass Mindestbesetzungen durch Nurse-to-Patient Ratios durch staatliches Recht vorgegeben werden und Bestrebungen nach einer Absenkung der Fachkraftquote in der stationären Langzeitpflege unterbunden werden. Die Parteien sollen sich auf Bundesebene dafür einsetzen, dass das Entscheidungsgremium der Selbstverwaltungspartner um die Pflegefachexpertise erweitert wird.
10. ANERKENNUNG/INTEGRATION AUSLÄNDISCHER PFLEGEFACHPERSONEN
Die steigende Anzahl ausländischer Pflegefachkräfte steht einem schlecht organisierten, nicht standardisierten, ineffizienten und sehr korruptionsanfälligen Anerkennungsverfahren in Deutschland entgegen. Im Vergleich mit anderen EU-Staaten hinkt Deutschland auch hier hinterher. Das ist für qualifiziertes Pflegefachpersonal unattraktiv. Ein bundesweit standardisiertes Verfahren in zertifizierten Anerkennungszentren und die Finanzierung der Zentren müssen ein wesentliches Ziel der Politik sein. Eine Skizze eines solchen Zentrums liegt dem StMGP vor.
Der BLPR fordert die Parteien auf, das Anerkennungsverfahren zum Heilberuf Pflege so auszugestalten, dass es effizient, professionell und nicht korruptionsanfällig ist.